Indiana Jones und die verlorene Tanzmusikquelle

Einer meiner Professoren pflegte immer zu uns Studenten zu sagen: „Jaja, die archäologischen Quellen, die Bodenfunde – da entdeckt man ständig Neues. Ein Historiker oder Archivar findet ja so gut wie niemals eine neue Handschrift, und wenn, dann ist das eine Sensation …“

Glücklicherweise trifft das auf Tanzmusiknotenhandschriften nicht zu. Zwar liegen viele Quellen, aus denen wir unser Repertoire beziehen, bereits als Faksimile, Abschrift oder Digitalisat öffentlich zugänglich vor. Aber in den vergangenen zehn Jahren ist eine beachtliche Zahl von Neufunden gemacht worden – von der Wittenberger Apothekerhandschrift, die bereits Anfang der 2000er im einem Stadtarchiv entdeckt wurde, über das Leipziger Notenbuch des Herrn Nahke bis hin zu dem kürzlich erfolgten Erwerb eines Flohmarktfundes, ursprünglich aus Vorpommern.

Was noch alles in Archiven, Bibliotheken, in Privatbesitz und auf Dachböden schlummert, kann man kaum erahnen. Jeder Interessierte kann aber zum

„Tanzmusik-Indiana Jones“ werden und sich auf die Suche nach der verlorenen Handschrift begeben! Die Chancen, fündig zu werden, stehen recht gut.

Aber wo soll man mit der Suche beginnen? Sinnvolle Anlaufpunkte sind die Stadt- oder Gemeindearchive, Uniarchive, Pfarrarchive sowie große, historisch gewachsene Bibliotheken, die Handschriften im Bestand haben. Beispiele wären: Die Staatsbibliothek Berlin, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel oder die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek Weimar. Leihbüchereien (Stadt- oder Stadtteilbibliotheken) haben ihren Fokus auf der Ausleihe möglichst neuer Bücher und so gut wie nie historische Bestände. Sie sind daher meist ungeeignet.

An diesem Punkt sind „erklärerische Fähigkeiten“ hilfreich. Die Bibliotheksangestellten und Archivare kennen sich in den seltensten Fällen mit Musikhandschriften aus. Und selbst, wenn sie sich damit auskennen, hatten sie wahrscheinlich noch nie mit den gesuchten Tanzmusiknotenhandschriften zu tun. Es ist also sinnvoll, bei der Nachfrage möglichst allgemeinverständlich und von Grund auf zu erklären, was man sucht und wie so eine Handschrift aussehen kann. Bezeichnungen wie „traditionelle Musik“ oder „Volks- oder Tanzmusik“ sind oft nicht hilfreich genug.

Nach folgenden Stichworten zu fragen hat sich als ergiebig erwiesen:

„Notenhandschriften“ oder „Handschriften mit Noten“

Handschriften, die betitelt oder einsortiert sind unter:

  • Stücke für … (z. B. Geige oder ein anderes Instrument)
  • Spielbuch für … (z. B. Elisabeth Müller oder ein anderer Personenname)
  • Spielbuch für … (z. B. Geige oder ein anderes Instrument)
  • Notenbuch für … (z.B. Elisabeth Müller oder ein anderer Personenname)
  • Notenbuch für … (z. B. Geige oder ein anderes Instrument)
  • 45 (oder ein andere Anzahl) Stücke
  • „Dieses Buch ist für eine (zwei …) (z. B. Geigen oder ein anderes Instrument) geschrieben“
  • „Tänze“ oder „Alte Tänze“ für … (z. B. Geige oder ein anderes Instrument)

Handschriften mit Melodien die folgende Eigenschaften haben:

  • meist zwei- bis vierteilig
  • die einzelnen Teile sind meistens 4- oder 8-taktig und  nicht länger als 16-taktig
  • die einzelnen Teile sind unterschiedlich lang und/oder haben ungerade Taktanzahlen z. B. 3- oder 7-taktig

Stücktitel sind häufig:

  • ohne Titel
  • Tanz/Tantz/Dantz
  • Tanzbezeichnungen wie z. B. Polka, Bure, Schottisch, Walzer, Rheinländer, Quadrille, Schleifer, Anglaise, Ecossaise, Hopser, Menuett usw.

Bei einem größeren Handschriftenbestand im jeweiligen Archiv oder in der Bibliothek lohnt es sich auch, generell nach anonymen Handschriften zu suchen und diese dann nach Noten zu durchforsten.

Hier braucht Ihr Euch nicht von Handschriften für Klavier abschrecken zu lassen. Häufig wurde Tanzmusik für das Klavier bearbeitet. Die Melodien können dabei aber unverändert geblieben sein.

Manchmal kann auch der Hinweis auf eine sogenannte „Tanzschrift“ weiterhelfen. In Heften aus dem 18. Jahrhundert wurden in einigen Fällen mit Hilfe von Linien u. a. die Tänze unter die Noten gezeichnet. Hier – und auch im Allgemeinen – ist es sinnvoll, ein Beispiel (z. B. das „Wernigeröder Notenbuch“) dabei zu haben.

Nun hat der Archivar tatsächlich etwas gefunden; man hat die Notenhandschriften vor sich auf dem Tisch und die weißen Handschuhe an. Da stellt sich bei der Durchsicht die Frage, ob der Fund überhaupt interessant ist. „Interessant“ ist nun ein sehr weiter Begriff und obendrein sehr persönlich gefärbt. Aber eine Handschrift, in der z. B. hauptsächlich Opernmelodien und -zwischenmusiken aus dem frühen 19. Jahrhundert oder Militärmärsche enthalten sind, ist für Tanzmusikfreunde in der Regel vielleicht eher nicht von Interesse. Trotzdem kann man in diesen Handschriften zwischen den Operetten auch manchmal den einen oder anderen Knaller finden, wie wir es bei den „Tanzmusikhefte Oberin“ aus Suderburg erlebt haben.

Schließlich lohnt es sich nach kürzlich gemachten Erfahrungen offenbar doch, den Trödler seines Vertrauens zu fragen, ob er Notenhefte mit alten handschriftlichen Noten besitzt. Möglicherweise ist zwischen all den gedruckten Klaviernoten aus dem 19. Jahrhundert und der Akkordeonschule von 1965 ja doch noch eine Tanzmusiknotenhandschrift versteckt! Der tramudera e. V. Berlin hat – wie schon angedeutet – genau einen solchen Flohmarktfund erwerben können. Vielleicht werden auch andere fündig?

 

Merit Zloch, Vivien Zeller, April 2017